Der Bruch: Krankheit, Isolation und Rückzug
In den 1770er Jahren kam es zu einem dramatischen Einschnitt im Leben des Künstlers. Messerschmidt litt zunehmend an einer mysteriösen Krankheit, die er selbst als „inneres Krampfleiden“ beschrieb. Heute vermuten Historiker eine Kombination aus bipolarer Störung, Schizophrenie oder einer psychosomatischen Erkrankung, vielleicht ausgelöst durch eine Bleivergiftung durch Materialien im Atelier.
Seine Krankheit führte zu sozialem Rückzug, Verfolgungsängsten und einem Bruch mit der Wiener Kunstszene. Nachdem er seine Lehrtätigkeit verlor, verließ er Wien und ließ sich 1777 in Pressburg (heute Bratislava) nieder, wo er bis zu seinem Tod lebte – nahezu vergessen von der Öffentlichkeit.
Die „Charakterköpfe“ – Franz Xaver Messerschmidt Charakterköpfe
In dieser Phase seines Lebens schuf Messerschmidt sein wohl rätselhaftestes und zugleich bedeutendstes Werk: die „Charakterköpfe“ (auch „Köpfe in verschiedenen Gemütsbewegungen“ genannt). Unter dem Begriff „Franz Xaver Messerschmidt Charakterköpfe“ sind heute über 60 überlebensgroße Büsten bekannt, die in einer bis dahin einzigartigen Form emotionale, physische und psychische Zustände darstellen.
Diese Köpfe zeigen:
- Extreme Grimassen
- Verdrehte Mimik
- Verzerrte Gesichtsausdrücke
- Spannungen zwischen Lachen, Schmerz, Abscheu und Ekstase
Messerschmidt schuf sie in Blei, Zinn, Alabaster und Marmor. Viele dieser Werke waren nicht als Auftragsarbeiten gedacht, sondern dienten ihm zur Selbsttherapie oder als Studie. Er stellte sich angeblich selbst vor einen Spiegel und versuchte, sich durch Muskelverkrampfungen aus dem inneren „Dämonenzugriff“ zu befreien – was er in Form dieser Büsten festhielt.
Die Köpfe tragen keine Namen, doch spätere Kunsthistoriker gaben ihnen Bezeichnungen wie:
- „Der starke Geruch“
- „Der Gähnende“
- „Der Hypochonder“
- „Der Dämonenbesessene“
- „Der Gequälte“
- „Der Ängstliche“
- „Der Selbstzufriedene“
Diese Messerschmidt Charakterköpfe gelten heute als visionär: Sie brechen mit der konventionellen Schönheitsästhetik des Klassizismus und eröffnen eine radikale, expressionistische Sicht auf den Menschen. Sie sind sowohl physiognomische Studien als auch psychische Selbstporträts – Jahrzehnte ihrer Zeit voraus.
Tod und Wiederentdeckung
Franz Xaver Messerschmidt starb am 19. August 1783 in Pressburg. Zu Lebzeiten war er im Alter zunehmend isoliert, krank und ohne offizielle Anerkennung. Seine Werke wurden nach seinem Tod lange Zeit als Kuriositäten betrachtet, nicht als ernstzunehmende Kunst.
Erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde sein Werk neu entdeckt und kunsthistorisch gewürdigt – insbesondere durch den wachsenden Einfluss der Psychoanalyse, der Moderne und des Expressionismus.
Künstler wie Egon Schiele, Oskar Kokoschka und später Bruce Nauman oder Francis Bacon sahen in ihm einen Pionier einer Kunst, die das Innere des Menschen nach außen kehrt – roh, direkt und psychologisch tiefgründig.
Bedeutung und Nachwirkung
Heute gelten die Franz Xaver Messerschmidt Charakterköpfe als eine der bedeutendsten Werkgruppen der europäischen Bildhauerei des 18. Jahrhunderts. Sie sind in zahlreichen internationalen Museen vertreten, unter anderem:
- Belvedere, Wien
- Louvre, Paris
- Albertina, Wien
- Kunsthistorisches Museum, Wien
- Metropolitan Museum, New York
- Glyptothek, München
Seine Köpfe faszinieren durch die radikale Reduktion auf das expressive Gesicht – sie sind Studien der Seele, der Angst, des Wahnsinns und der Menschlichkeit.
Fazit
Franz Xaver Messerschmidt war ein Außenseiter – ein Visionär, der sich nicht mit Oberflächen, sondern mit den tiefsten seelischen und körperlichen Spannungen des Menschen beschäftigte. Seine Charakterköpfe sind nicht nur künstlerisch brillant, sondern auch existenziell – sie zeigen, was es heißt, Mensch zu sein in all seiner Zerbrechlichkeit, Wut, Angst und Absurdität.
In einer Zeit des höfischen Idealschönen wagte Messerschmidt den Blick ins Unkontrollierbare – und wurde damit zu einem Vorläufer der modernen Kunst.