Der kubistische Gutfreund
Otto Gutfreund kehrte 1910 nach Prag zurück, arbeitete jedoch in den folgenden Jahren häufig zwischen Prag und Paris. Ab 1912 wurde er Mitglied der progressiven tschechischen Künstlergruppe „Skupina výtvarných umělců“ (Gruppe bildender Künstler). In dieser Phase entwickelte Gutfreund einen eigenständigen, skulpturalen Kubismus, der ihn zum führenden Vertreter dieser Stilrichtung in Mitteleuropa machte.
Zu seinen bedeutenden Werken dieser Phase zählen:
- „Úzkost“ (Angst, 1912) – eine expressive Skulptur mit zersplitterten kubistischen Formen und existenzieller Tiefe
- „Konzert“ (1913–14) – eine Gruppe von Musikern, geometrisch stilisiert
- „Don Quijote“ – ein charakteristisches Beispiel seiner Auseinandersetzung mit literarisch-symbolischen Themen
Im Gegensatz zur flächigen Malerei des Kubismus schuf Gutfreund komplexe, räumlich durchdrungene Formen, die emotionale und intellektuelle Tiefe miteinander verbanden.
Der Erste Weltkrieg – Bruch und Wendepunkt
Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs befand sich Gutfreund in Paris. Aus Loyalität zur französischen Nation meldete er sich zur Fremdenlegion, in der viele Künstler kämpften. Die folgenden Jahre waren geprägt von Frontdienst, Gefangenschaft und Internierung.
Zwischen 1916 und 1918 verbrachte Gutfreund über zwei Jahre in französischen Internierungslagern – eine Erfahrung, die ihn tief prägte und seinen künstlerischen Ausdruck veränderte. Nach dem Krieg kehrte er zunächst nach Paris, dann 1920 dauerhaft nach Prag zurück.
Spätwerk – Rückkehr zur Figur
In den 1920er Jahren wandte sich Gutfreund wieder einer realistischeren Formensprache zu. Der expressive Kubismus wich einer „Neuen Sachlichkeit“ und einer Rückbesinnung auf klassische Körperdarstellungen. Diese Entwicklung entsprach dem damaligen Zeitgeist: Viele Künstler der Nachkriegszeit suchten nach Ordnung, Harmonie und einer greifbaren Realität.
Typisch für diese Phase sind:
- „Textilarbeiter“ (1921) – eine realistische Figur, die die Würde des arbeitenden Menschen betont
- Kleine keramische Figuren, oft polychrom und dekorativ
- Architektonische Reliefs und Fassadendekorationen in Prag
Sein Stil blieb jedoch stets von einer klaren Plastizität und einem modernen Formgefühl geprägt.
Pädagogische Tätigkeit und Anerkennung
1926 wurde Otto Gutfreund als Professor an die Hochschule für angewandte Kunst in Prag berufen. Dort unterrichtete er architektonische Skulptur und beeinflusste eine neue Generation tschechischer Künstler. Er engagierte sich auch in der Organisation internationaler Kunstausstellungen, darunter die tschechoslowakische Beteiligung an der Weltausstellung für dekorative Kunst in Paris 1925.
Er war mit Ausstellungen in Berlin, Paris, New York und Wien vertreten. Seine Arbeiten wurden von Kritik und Publikum gleichermaßen geschätzt.
Früher Tod und Nachwirkung
Am 2. Juni 1927 starb Otto Gutfreund unerwartet im Alter von nur 37 Jahren in Prag. Die genauen Umstände seines Todes sind nicht vollständig geklärt – es wird vermutet, dass er beim Baden im Moldaufluss ertrank.
Trotz seines kurzen Lebens schuf Gutfreund ein äußerst vielseitiges Werk und zählt zu den wichtigsten Bildhauern Mitteleuropas im frühen 20. Jahrhundert. Sein Werk ist heute in vielen bedeutenden Museen vertreten, darunter:
- Nationalgalerie in Prag
- Lehmbruck-Museum in Duisburg
- Musée National d’Art Moderne in Paris
- Guggenheim Museum in New York
Bedeutung für die Kunstgeschichte
Otto Gutfreund war der erste Bildhauer, der den kubistischen Stil konsequent in die Skulptur übertrug. Sein Werk verbindet künstlerische Avantgarde mit gesellschaftlicher Verantwortung, intellektuelle Konstruktion mit emotionaler Tiefe. Er war ein Wegbereiter der tschechischen Moderne, der mit Mut und Innovationskraft neue Wege in der Plastik beschritt.
Sein Einfluss zeigt sich in der tschechischen Kunst ebenso wie in der internationalen Skulptur des 20. Jahrhunderts. Er bleibt eine Schlüsselfigur zwischen den Welten von Rodin, Picasso, Archipenko und Lehmbruck.
Fazit
Otto Gutfreund war ein Künstler des Übergangs – zwischen Klassik und Moderne, zwischen Krieg und Frieden, zwischen Abstraktion und Figürlichkeit. Seine Skulpturen sind Ausdruck einer suchenden, reflektierenden Zeit und stehen für den Versuch, aus der Zersplitterung der Moderne eine neue Formensprache zu gewinnen. Bis heute wirken seine Werke nach – als stille Zeugen eines kurzen, aber bedeutenden Künstlerlebens.