Begegnung mit Isabel Dutaud und Übersiedlung in die USA
Ein entscheidender Wendepunkt in Lachaises Leben war die Begegnung mit Isabel Dutaud Nagle, einer amerikanischen Lehrerin, die er um 1902 in Paris kennenlernte. Isabel war verheiratet und deutlich älter als Lachaise – doch ihre charismatische Persönlichkeit, ihre Unabhängigkeit und körperliche Präsenz zogen ihn unwiderstehlich an. Sie wurde zur Muse seines Lebens und seiner Kunst.
Als Isabel nach Boston zurückkehrte, folgte ihr Lachaise im Jahr 1906 in die Vereinigten Staaten – ein radikaler Schritt für einen jungen Künstler, der seine europäische Karriere noch gar nicht begonnen hatte. In den USA arbeitete er zunächst für den Bildhauer Henry Hudson Kitson, später zog er nach New York City, wo er als Assistent für Paul Manship tätig war, einem bekannten Vertreter der amerikanischen klassizistischen Moderne.
Die Ehe mit Isabel, die schließlich geschieden wurde und Lachaise heiratete, gab seinem Schaffen eine klare inhaltliche Richtung: Der weibliche Körper, insbesondere Isabels Figur, wurde zum Mittelpunkt seines gesamten künstlerischen Universums.
Künstlerischer Durchbruch und Stilentwicklung
Ab den 1910er-Jahren begann Lachaise, einen eigenen Stil zu entwickeln, der sich deutlich von der akademischen Tradition abgrenzte. Seine Skulpturen sind von einer intensiven, fast ekstatischen Verehrung des weiblichen Körpers geprägt. Er zeigte Frauen nicht als fragile Grazien, sondern als kraftvolle, wuchtige, erdverbundene Wesen mit üppigen Formen, massiven Hüften und betonten Brüsten – eine Ästhetik, die sowohl sinnlich als auch monumental ist.
Diese Haltung steht im Kontrast zur damals verbreiteten Darstellung des weiblichen Körpers in der Kunst, die auf Schlankheit, Anmut und Idealisierung setzte. Lachaises Frauenfiguren besitzen dagegen eine fast prähistorische oder mythologische Aura – sie verkörpern Fruchtbarkeit, Stärke, Natürlichkeit und weibliche Urgewalt.
Seine bekanntesten Werke, darunter:
- „Standing Woman“ (1928–1930)
- „Floating Figure“ (1927)
- „Elevation“ (1912–15)
- „Woman“ (1932)
zeigen Frauen als selbstbewusste, fast göttliche Figuren. Die Plastizität, Glätte und Präsenz dieser Werke haben viele spätere Künstlerinnen und Künstler beeinflusst.
Symbolismus und Spiritualität
Lachaise war nicht nur ein Bildhauer, sondern auch ein intellektueller Künstler, der sich intensiv mit Philosophie, Religion und Symbolik beschäftigte. Seine Skulpturen sind keine naturalistischen Abbilder, sondern Verdichtungen innerer Ideale. Seine Frauenfiguren stehen für Naturverbundenheit, Erotik, Lebensfreude, Spiritualität und göttliche Weiblichkeit.
Sein Werk wurde häufig mit dem Ausdruckstanz, mit hinduistischer Symbolik und mit mythischen Archetypen verglichen. In einem Interview sagte er:
„Meine Frau ist die Quelle all meiner Inspiration. In ihrer Form finde ich den universellen Ausdruck des Lebens.“
Diese konsequente Fokussierung auf ein Motiv – die Frau als schöpferische Urkraft – war radikal, kompromisslos und zutiefst modern.
Erfolg und Anerkennung
Trotz seines eigenwilligen Stils wurde Lachaise bereits zu Lebzeiten in der amerikanischen Kunstszene geschätzt. Er stellte ab 1913 regelmäßig aus, unter anderem bei der Armory Show, die die europäische Avantgarde in die USA brachte. Kritiker würdigten seine Skulpturen als „lebendig“, „beunruhigend“ und „von metaphysischer Kraft“.
1935, nur wenige Monate vor seinem Tod, ehrte ihn das Museum of Modern Art (MoMA) in New York mit einer Retrospektive – die erste Einzelausstellung eines lebenden amerikanischen Bildhauers in diesem Haus. Diese Ausstellung festigte seinen Ruf als Wegbereiter der modernen Skulptur in den USA.
Tod und Vermächtnis
Gaston Lachaise starb am 18. Oktober 1935 im Alter von nur 53 Jahren in New York City. Seine Frau Isabel überlebte ihn um mehrere Jahre und setzte sich unermüdlich für die Bewahrung seines Werkes ein.
Nach seinem Tod geriet er zunächst etwas in Vergessenheit, wurde jedoch in den 1950er- und 60er-Jahren wiederentdeckt – insbesondere durch Künstler und Designer, die sich für den menschlichen Körper und organische Formen interessierten. So ließen sich Charles und Ray Eames von Lachaises „Floating Figure“ zu ihrem berühmten Lounge Chair „La Chaise“ (1948) inspirieren.
Heute sind seine Werke in vielen bedeutenden Museen zu sehen, darunter:
- Museum of Modern Art (MoMA), New York
- Whitney Museum of American Art, New York
- Gaston Lachaise Foundation, Maine
- Art Institute of Chicago
- Tate Modern, London
Fazit
Gaston Lachaise war ein kompromissloser Bildhauer, der mit seinem einzigartigen Stil die Darstellung des Körpers revolutionierte. Er stellte den weiblichen Körper in den Mittelpunkt seiner Kunst – nicht als Objekt männlicher Begierde, sondern als kraftvolle, schöpferische Quelle des Lebens. Seine Werke vereinen Sinnlichkeit und Spiritualität, Monumentalität und Intimität.
Er war ein Poet der Form, ein Grenzgänger zwischen Klassik und Moderne, dessen Skulpturen bis heute nichts an Ausdruckskraft verloren haben. In einer Zeit der stilistischen Umbrüche fand Lachaise zu einer ganz persönlichen und universellen Bildsprache – und gehört damit zu den wichtigsten Bildhauern des 20. Jahrhunderts.